Ausbildung in der Krise: Der Fachkräftemangel in praktischen Berufen führt zum Wohlstandsverlust

68.900: So viele Ausbildungsplätze sind im vergangenen Jahr unbesetzt geblieben. Damit hat die Ausbildungsmisere in Deutschland einen neuen Negativrekord erreicht. Im Vergleich zu 2019 ist der Wert um 30 Prozent (!) gestiegen. Die Folgen dieser Entwicklung spüren nicht nur die Betriebe unmittelbar – denn ihnen fehlen zunehmend die Nachwuchskräfte –, sondern auch die Kundschaft. Aufträge verzögern sich oder werden gar nicht erst angenommen, das Angebot schrumpft und Geschäfte verkürzen ihre Öffnungszeiten. Dadurch wird der ohnehin gravierende Fachkräftemangel in den kommenden Jahren weiter verstärkt. Schon heute sind in mehr als einem Drittel der Kleinst-, Klein- und mittleren Unternehmen (37 Prozent) nicht alle Stellen besetzt, wie kürzlich eine Umfrage von Lexware unter Selbstständigen und KMU* ergeben hat. Wenn sie nun auch nicht mehr genug junge Menschen für ihre Arbeit begeistern können, werden die langfristigen Auswirkungen für die deutsche Wirtschaft und Gesellschaft drastisch sein.

Besonders schwer haben es bei der Suche nach Auszubildenden oft die kleinen und mittleren Betriebe: Sie können nicht mit einem bekannten Namen aufwarten, der Bewerber:innen automatisch anlockt. Zudem ist oft weder genügend Zeit noch Personal da, um dem Recruiting die notwendige Aufmerksamkeit zu widmen. Es ist daher dringend notwendig, die Ausbildungsthematik auf verschiedenen Ebenen anzugehen. Das Interesse daran scheint allerdings sowohl in der Politik als auch in der Öffentlichkeit eher gering – ein öffentlicher Aufschrei ob der sinkenden Azubizahlen ist weit und breit nicht in Sicht – zumindest bis die Krise so groß ist, dass man sie nicht mehr ignorieren kann. 

 

Jugendliche werden mit der Berufswahl allein gelassen 

So weit sollten wir es allerdings nicht kommen lassen. Gefragt sind jetzt zunächst die Schulen: „Wir haben zwar unendliche Male Bewerbungsschreiben geübt, darüber hinaus wurde das Thema berufliche Orientierung aber nicht wirklich behandelt“, berichtet Anna-Lena Hochuli, als sich die Auszubildende zur Elektronikerin an ihre Schulzeit zurückerinnert. Und aus ihrer Tätigkeit als Ausbildungsbotschaftern der HWK Freiburg weiß sie, dass sie kein Einzelfall war: „Ich merke immer wieder, wie wenig die jungen Leute über das Handwerk wissen.“  

Diese Erfahrungen spiegeln sich auch in den Azubi-Recruiting Trends 2023 wider: Demnach ist die fehlende Berufsorientierung in den Schulen für jede:n zweite:n Azubi (50 Prozent) der Grund für die vielen unbesetzten Ausbildungsplätze im letzten Jahr. Von den befragten Ausbilder:innen stimmen ebenfalls 45 Prozent dieser Aussage zu. Dagegen schreibt nur jeweils ungefähr ein Viertel der Befragten (Azubis: 28 Prozent; Ausbildende: 26 Prozent) Ausbildungsberufen eine mangelhafte Attraktivität zu. 

„Ich bin für Pflichtpraktika im Handwerk und in der Pflege. Nur so können wir das Interesse junger Leute wecken und sie begeistern, so wie ich damals begeistert wurde.“ – Anna-Lena Hochuli, Auszubildende zur Elektronikerin.

Die berufliche Orientierung muss deshalb dringend auf die Lehrpläne! Und zwar in allen Schulformen – auch ein Abitur muss nicht notwendigerweise zum Studium führen – und in einer Art und Weise, in der die Jugendlichen wirklich unterschiedliche Möglichkeiten aufgezeigt bekommen: Welche Ausbildungen gibt es überhaupt, wie gestaltet sich der Alltag in diesen Berufen, wie steht es um die Zukunftschancen? Von so jungen Menschen, die erst noch die Welt für sich entdecken, ist es zu viel verlangt, sich davon im Alleingang ein umfassendes Bild verschaffen zu müssen. Selbst Erwachsene kennen viele Berufe nicht oder wissen nicht, was sie beinhalten. 

Ausbildung und Personalsuche müssen zeitgemäß sein 

Andererseits müssen sich auch die Betriebe an die neue Realität anpassen. So schaltet mehr als ein Viertel der Kleinst-, Klein- und mittleren Unternehmen (28 Prozent) weiterhin Printanzeigen, um neue Mitarbeitende zu finden. Aber wie viele Jugendliche schlagen heute überhaupt noch eine Zeitung auf, geschweige denn, um darin einen Job zu finden? So erreicht man allenfalls die Elterngeneration. 

Doch es geht auch anders: Die Joos-Gruppe etwa, ein mittelständisches Unternehmen aus dem Raum Freiburg, begeistert junge Menschen via TikTok seit 2021 für Jobs im Tief- und Straßenbau. Mit Kreativität sowie zeit- und zielgruppengemäßer Kommunikation- ob über Social Media, Tage der offenen Tür, oder Karrieremessen lässt sich viel bei der Nachwuchssuche erreichen. Insbesondere der persönliche Kontakt ist oft der Schlüssel, der das Interesse an einer Ausbildung weckt. So auch bei Anna-Lena Hochuli: „Ich bin durch einen Freund der Familie, der Elektromeister ist, zum Handwerk gekommen. Er hat mir erzählt, wie toll sein Beruf ist und dass ich bei ihm im Betrieb eine Ausbildung machen könnte.“ Heute ist sie im dritten Lehrjahr und teilt ihre Erfahrungen mit fast 50.000 Follower:innen über Instagram. 

Schulen und Betriebe werden die Ausbildungsmisere allerdings nicht allein beenden können. Auch von Seiten der Politik müssen Veränderungen angestoßen werden. Gerade eine Modernisierung der Ausbildung ist längst überfällig. Mehr als die Hälfte der Befragten aus Kleinst-, Klein- und mittleren Betrieben (53 Prozent) fordert etwa, dass die duale Ausbildung besser gefördert, die Ausbildungspläne an die Bedürfnisse der Wirtschaft angepasst und neue Ausbildungsberufe eingeführt werden.

Fazit 

Das Ausbildungssystem ist ein Erfolgsmodell – zumindest bislang. Doch wir vernachlässigen es und schaffen es immer weniger, Jugendliche für praktische Berufe zu begeistern. Damit riskieren wir über kurz oder lang unseren Wohlstand. Wenn wir nur an die zahlreichen Herausforderungen denken, die wir in den nächsten Jahren lösen müssen – ob Klimawende, Wohnungsbau oder eine alternde Gesellschaft, die versorgt werden muss – wird deutlich, wie wichtig Ausbildungsberufe sind. Wir können die Zukunft nicht ohne Installateur:innen, Maurer:innen oder Pflegekräfte bestreiten. Deshalb müssen wir die Ausbildung von allen Seiten neu denken und junge Menschen viel umfassender bei ihrem beruflichen Weg unterstützen.  

Eine Ausbildung, zum Beispiel im Handwerk, kann auch in der eigenen Selbstständigkeit münden. Viele denken dabei an das Gründen eines hippen Start-ups. Die meisten Gründungen finden aber in klassischen Bereichen** statt: Gesundheit und Soziales (68.000 Gründungen im Jahr 2022), freiberufliche Tätigkeiten (60.000 Gründungen) und im Bereich Erziehung und Unterricht sowie im Baugewerbe (jeweils 49.000 Gründungen). Dass das hervorragende Aussichten für selbstbestimmtes Arbeiten und den Traum vom eigenen Business sind, auch das müssen wir jungen Menschen noch besser zeigen.  

 

Methodik 
* Lexware hat im Zeitraum vom 20. bis zum 24. April 2023 1.500 seiner Kund:innen per Online-Fragebogen nach der Personalsituation in ihrem Unternehmen und ihrem Umgang mit dem Fachkräftemangel befragt. 
** Die Daten stammen aus dem Lexware KMU Data Hub, der in Zusammenarbeit mit Statista entstanden ist.  
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